Sicherheit, Geborgenheit und Normalität in einer zerfallenden Welt
Eine professionelle, für die Pflegebedürftigen unterstützende Pflege von Menschen mit Demenz stellt eine der schwierigsten Aufgaben im Bereich der Pflege alter Menschen dar. Diese Aufgabe erscheint darüber hinaus fast unlösbar, da viele Demenzkranke zumindest zeitweise Verhaltensweisen zeigen, durch die sich Pflegende angegriffen fühlen, die sie nicht verstehen, die rundum als störend empfunden werden, die zur Gefährdung der Pflegenden führen oder gar eine Selbstgef ährdung der Pflegebedürftigen darstellen.
Die folgenden Texte befassen sich mit dem für die Pflege demenzkranker
Menschen hochkomplexen Wissen und stammen aus:
Rahmenempfehlungen zum Umgang mit herausforderndem Verhalten bei
Menschen mit Demenz
in der stationären Altenhilfe BMG 2006
An der Erarbeitung der Empfehlungen war auch die DGGPP beteiligt. ->Hier der Link zum Originaldokument
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Herausfordernde Verhaltensweisen
Die Pflege demenzkranker Menschen in Altenpflegeheimen stellt große Herausforderungen an alle, die sich um einen menschengerechten Umgang mit diesem Personenkreis bemühen. Insbesondere werden hohe fachliche und kommunikative Kompetenzen gefordert, wenn die zu betreuenden Menschen ein Verhalten zeigen, welches sich im Zuge ihres Krankheitsverlaufs so stark verändert, dass es als störend und problematisch empfunden wird.
Zielloses Herumwandern, Aggressivität, Schreien oder Apathie sind Verhaltensweisen, die meistens als belastend für Pflegende wie für das gesamte Umfeld empfunden werden. So führen zum Beispiel die sogenannten vokalen Störungen (wie Schreien, Rufen, Geräusche machen) zur Frustration, Angst und Ärger bei den Pflegenden und bewirken eine Distanzierung zu demenzkranken Personen.
Auf der anderen Seite können gerade diese Verhaltensweisen darauf
hinweisen, dass die Betroffenen selbst unter einem starken Leidensdruck
stehen und diese Verhaltensformen ein Ausdruck des Leidens sind. Die Umwelt
reagiert jedoch oft mit Unverständnis oder Abwehr, was wiederum leicht
zu einer negativen Verstärkung der Verhaltensweisen führen kann.
Erschwerend kommt hinzu, dass diese Verhaltensweisen meistens unvorhersehbar sind, da ihre Häufigkeit und Dauer oder die Intensität des Auftretens stark wechseln. Diese Art von Unvorhersehbarkeit belastet die Situation zusätzlich und erfordert einen flexiblen und kreativen Umgang mit den betroffenen Personen.
Untersuchungen zufolge gehört Agitation zu den häufigsten und dauerhaften Verhaltensweisen, gefolgt von Depressivität, Angst und Aggressivität. Agitation, zu der auch das ziellose Herumwandern zu zählen ist, und Aggressivität gehören zu den am längsten anhaltenden Verhaltensformen. Sie sollen in einem Zeitraum von zwei Jahren bei jeder Patientin und jedem Patienten mit einer Alzheimerdemenz vorkommen. Auch Passivität oder Apathie gehören zu den häufig auftretenden Verhaltensweisen, die jedoch von den Betreuenden nicht als belastend empfunden und deshalb auch nur selten behandelt werden.
Herausfordernde Verhaltensweisen sind ein Resultat der Unfähigkeit „sich verständlich zu machen“, eine Reaktion auf eine Welt, die einem nicht mehr vertrauensvoll und verlässlich ist. Die Einschränkungen in der Kommunikation über Probleme und Bedürfnisse führen dazu, dass die Betroffenen nur durch Veränderungen im Verhalten auf sich aufmerksam machen können. Dritte können jedoch häufig diese Signale nicht deuten und den Auslöser verkennen bzw. nicht verstehen.
Das Erkennen der zugrunde liegenden Problematik erfordert von den Helfern eine intensive Beobachtung und die Kenntnis der Biographie. Ohne dies ist eine reale Hilfe bei herausforderndem Verhalten nicht möglich. Die „Auffälligkeiten“ im Verhalten rücken stattdessen ausschließlich als Störfaktor in den Mittelpunkt der Betrachtung, die Interventionen der Helfer zielen somit auf die Beeinflussung bzw. Vermeidung des als störend empfundenen Verhaltens ab.
Wenn Menschen daran gehindert werden, über einen gewissen Freiheitsspielraum
und Einfluss auf die Umgebung zu verfügen, erleben sie eine Einengung
oder Verletzung ihrer Selbstbestimmung, die in der Motivation resultiert,
die verlorene Freiheit zu sichern oder zurückzugewinnen. Dies kann
sich auch in Form von Angst, Enttäuschung, Wut und Aggression zeigen.
Je weniger ein Mensch über sozial anerkannte Formen sozialer Kompetenz verfügt, umso eher wird er versuchen, unter Einbeziehung sozial abweichender oder stigmatisierter Formen, seine Selbst-bestimmung wiederherzustellen. In Einrichtungen kommt es generell zu Einschränkungen der Selbstbestimmung durch Organisationsstrukturen, Routine und Betreuer.
Kontrollverlust
Die Behinderungen, die durch eine Demenz entstehen, können global
als Kontrollverlust und Abhängigkeit von anderen verstanden werden.
Der Kontrollverlust entsteht durch die kognitiven Einbußen im planerischen
Handeln, durch Verlust von Alltagsfertigkeiten und Orientierungsvermögen,
durch Gedächtnisverluste und durch den Verlust von sprachlichem Ausdrucksvermögen.
Ebenso verändert sich die Wahrnehmung der Realität im Rahmen
von Gegenwarts- und Vergan-genheitsverschränkungen. Erinnerte Ereignisse
werden nicht mehr als vergangen und abgeschlossen erlebt, sondern Erinnertes
und Gegenwärtiges wird auf der Gegenwartsebene erlebt. Damit wird
die Ich-Identität der Person mit Demenz brüchig, die persönliche
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kann nicht mehr geschlossen
empfunden werden.
Diese Veränderungen der kognitiven Fähigkeiten können verallgemeinernd beschrieben werden, werden jedoch durch die Persönlichkeit und Lebensgeschichte der Person mit Demenz in ihrer Ausprägung beeinflusst. Mit dem Kontrollverlust über das eigene Leben wächst die Abhängigkeit von anderen Menschen, die subjektiv ebenfalls mehr oder weniger belastend empfunden wird.
Der Mensch mit Demenz in einer stationären Einrichtung ist besonders
gefährdet, die Kontrolle über sein Leben und seine Ich-Identität
zu verlieren. Der Einzug in eine stationäre Einrichtung erfolgt häufig
in einem Stadium der Demenz, in der diese Umgebungsveränderung kaum
noch bewältigt werden kann, wodurch eine zusätzliche Destabilisierung
der Person erfolgt.
Die Organisationsbedingungen der stationären Einrichtung können zusätzlich
bewirken, dass noch bestehende Fähigkeiten eines selbstbestimmten Lebens
nicht erkannt und nicht genutzt werden. Der Kontrollverlust verstärkt
sich dann in der stationären Pflege durch organisationsbedingte Orientier-ungs¬losigkeit,
durch Übernahme von Handlungen, die noch selbst vollzogen werden können
und durch organisationsbedingte Fremdbestimmung.
Der beschriebene demenz- und organisationsbedingte Kontrollverlust verursacht Unsicherheit und Angst, die sich ebenso als Aggression oder Apathie zeigen kann. Angst lässt sich nach Erkenntnissen der Sozialpsychologie leichter in Gesellschaft ertragen. So haben Versuche gezeigt, dass in Angst versetzte Personen den Kontakt zu anderen suchen, die in der gleichen misslichen Lage sind, aber unter Umständen abgeklärter wirken. Die Angst hat sich bei den Versuchspersonen immer verringert, wenn sie in der Gesellschaft weiterer Menschen waren.
Aus Sicht der Verhaltensforschung steigert sich das menschliche Wohlbefinden in kleinen geschlossenen Gruppen. Hier können Vertrauensbeziehungen entstehen, weil alle einander kennen und das Verhalten der Mitmenschen mit einer gewissen Verlässlichkeit einschätzen können.
Menschliches Verhalten ist immer das Ergebnis eines komplexen Prozesses,
der subjektiv gestaltet wird und bewusste und unbewusste Aktionen/Reaktionen
beinhaltet. Das Verhalten eines Individuums wird von anderen im Rahmen
des sozialen Seins aufgenommen, interpretiert und beantwortet. Menschen
als soziale Wesen sind darauf ausgerichtet, stetig eine gemeinsame Wirklichkeit
zu konstruieren, die einen sicheren Rahmen für das soziale Miteinander
schafft.
Im Rahmen demenzieller Erkrankungen verliert sich die Fähigkeit, zusammen
mit anderen eine gemeinsame Wirklichkeit herzustellen (gemeinsam und mit anderen
in einer gemeinsamen Lebenswelt mit angeglichenen Deutungs-, Wert- und Ausdrucksmustern
zu interagieren).
Da die vorausgesetzten Ressourcen von Sprache und Kultur teilweise oder vollständig versagen, kommt es zu einem unterschiedlichen Situationsverständnis und damit entstehen in Interaktionen wechselseitig sich nicht ergänzende Handlungsfolgen: Die wesentlichen Unterscheidungen zwischen Schein und Sein, Irrtum und Wahrheit, Trivialität und Bedeutung, Nebensächlichkeiten und Wesentliches stimmen nicht mehr überein. Herausfordernde Verhaltensweisen können Ausdruck von Angst und Unsicherheit sein.
Pflegeziel: Wohlbefinden
Das Pflegeziel für Menschen mit Demenz mit herausfordernden Verhaltensweisen
ist demnach der Erhalt oder die Verbesserung des Wohlbefindens dieser Personen.
Das Pflegeziel des Wohlbefindens für die Gruppe der demenzerkrankten
Menschen mit herausfordernden Verhaltensweisen ist damit das Gleiche, wie
für alle pflegebedürftigen Menschen. Wohlbefinden ist der entscheidende
Ausdruck der subjektiv empfundenen Lebensqualität. Herausforderndes
Verhalten bei Demenz kann selbst auch Ausdruck von Wohlbefinden sein. Es
geht also darum, Verhaltensweisen von Menschen mit Demenz adäquat
zu interpretieren und nicht prinzipiell zu vermeiden bzw. abzuschalten.
In der Reflektion über herausforderndes Verhalten muss zuerst die
Frage gestellt werden, ob dieses Verhalten Ausdruck von Wohlbefinden ist,
das Wohlbefinden der Person mit Demenz fördert und die Lebensqualität
steigert, oder ob dieses Verhalten eher Unwohlsein ausdrückt.
Personen mit Demenz benötigen in der stationären Pflege eine Stabilisierung ihrer Ich-Identität, um nicht verloren zu gehen. Dies wird in erster Linie durch eine anerkennende Beziehungsgestaltung zu jedem einzelnen Menschen mit Demenz und innerhalb der sozialen Gruppe erreicht.
Die Anforderungen an eine anerkennende Beziehungsgestaltung bei Demenz
orientieren sich nach den besonderen psychischen Bedürfnissen bei
Demenz. Dies sind die Bedürfnisse nach Trost, Identität, Beschäftigung,
Einbeziehung und Bindung.
Das psychische Bedürfnis nach Trost entsteht durch die Verluste über
die Kontrolle des eigenen Lebens. Trost bedeutet Nähe und Beistand,
Linderung von Schmerzen und Sorge für ein sicheres, geborgenes Aufgehobensein.
Die Person mit Demenz kann ihre Identität nur mit Unterstützung
durch Andere aufrechterhalten, sie braucht ein Umfeld, in dem die eigene
Lebensgeschichte bekannt ist. Ebenso ist empathisches Agieren im Rahmen
von Validation identitätserhaltend, weil durch Validation die unverwechselbare
Identität des Anderen anerkannt wird.
Bindung und Beziehung nehmen einen großen Stellenwert ein. Besonders in den ersten Lebensjahren ist die primäre Bindung ein Sicherheitsnetz, welches individuelle Entwicklung erst möglich macht. Der Mensch mit Demenz geht wieder in eine Welt ein, in der Dinge nicht mehr verstehbar sind, in der eigene Entscheidungen in unüberschaubaren Zusammenhängen nicht mehr getroffen werden können. Dementsprechend groß ist oft das Bedürfnis nach primärer Bindung, die Halt und Sicherheit in einer auseinander brechenden Welt gibt. So kann die Sehnsucht einer Person mit Demenz nach ihrer Mutter ein Wunsch nach diesem mütterlichen Schutz sein.
Einbeziehung wirkt auf die Notwendigkeit ein, dass der Mensch ein Gruppenwesen ist und traditionell nur in Gruppen überleben kann. Die Gruppe bietet Stabilität und wirkt über die Summe ihrer einzelnen Mitglieder hinaus. Die Person mit Demenz kann sich immer weniger allein halten, so dass die Gruppenzugehörigkeit persönlich stabilisiert und auch eine persönlichkeitserweiternde Funktion hat, wenn der Person ein fester Platz in der Gruppe zugewiesen wird.
Die Bedeutung der Beziehung
Professionelle Beziehung erfordert Reflexion und damit bewusstes
Distanzieren, um im professionellen Rahmen emotionale Nähe herstellen
zu können. Nur aus der reflektierenden Distanz erwächst eine
hilfreiche Nähe, die weder verstrickt ist in unerfüllbare Beziehungsangebote
der Bewohnerin und des Bewohners noch die Beziehung zur Stillung eigener
Bindungs- und Akzeptanzbedürfnisse missbraucht. Reflexion nimmt damit
auch eine Schutzfunktion für Pflegende und Bewohnerinnen und Bewohner
wahr und hat das Ineinander von klinisch-fachlichen, moralisch-ethischen
und situativen Problemfeldern zum Gegenstand.
Diese Beziehung in der Pflege bewusst, gezielt und reflektiert aufzubauen und zu gestalten bedeutet, „erlerntes Regelwissen, begründet auf den einzelnen `Fall`, situationsgerecht anwenden können“.
Die Sorge um das Wohlergehen und Erleben der Bewohnerin, des Bewohners erfordert, funktionale Anliegen in eine professionelle Beziehung einzubetten: nach Möglichkeit isst man mit Bewohnerinnen und Bewohnern zusammen und führt nicht die Verrichtung „Essenreichen“ durch: Kontakt steht vor jeder Funktion. Wesentliche Eckpunkte professioneller Beziehungsgestaltung bilden: Kennenlernen des Klienten durch die Bezugspflegeperson; Tagesgestaltung gemäß lebensgeschichtlich verankerter Abläufe; Nutzen selbstwertwichtiger Identitätsanteile im alltäglichen pflegerischen Handeln; verlässliche Präsenz; deutliche Verlangsamung im Kontakt; Parallelität und Wechselseitigkeit auf körpersprachlicher Ebene (Körperpositionen, Atmung, Tonus, Takt/Rhythmus) und Gleichzeitigkeit der Signalebenen; Ruhe und Gelassenheit im Kontakt; Freundlichkeit, Lächeln und Humor, ohne falsche Nähe zu suggerieren; einfache sprachliche Struktur; bewusster Umgang mit selbst erfahrenen Kränkungen sowie Vermeidung der Zuschreibung von Absichten. Ziel ist es, einen erfolgreichen Kontakt aufzubauen mit gemeinsamem Richtungssinn sowie wechselseitigem Aufbau gemeinsamer Aktionen.
Das Gestalten pflegerischer Situationen in der Arbeit mit Menschen mit Demenz ist durch die spannungsgeladene Gleichzeitigkeit von Autonomie und Bindung, von hoher (Vor)Strukturiertheit und ausgeprägter Situationsoffenheit, von der Orientierung an funktionalen Vorgaben und der Orientierung an der konkreten Person geprägt. Einerseits muss die Pflege strukturiert vorgeplant werden, andererseits darf dies nicht verhindern, dass konkrete Situationen ein völlig anderes Verhalten der Pflegenden erfordern. Hinzu kommen die hohe Komplexität psychischer Erkrankungen im hohen Lebensalter sowie die ausgesprochene Vielschichtigkeit der demenziellen Erkrankungsformen. Bei der fachlichen und ethischen Reflexion dieser Themen müssen Pflegende auf Leitungen und externe Begleitung zurückgreifen können, um sich immer wieder neu verorten zu können.
Diese Komplexität des Geschehens erfordert weiter, präzise beschreiben zu können, was eine Person mit Demenz tut und wie es ihr dabei ergeht: Verstehen steht vor jedem Machen. Brücken bauen und Übergänge schaffen kann nur gelingen, wenn auf das geschaut wird, was geht und wie genau es geschieht und nicht auf das, was fehlt: Symptome und herausfordernde Verhaltensweisen haben auch Kommunikationscharakter. Es gilt, eine Kultur der professionellen emotionalen Nähe herzustellen, die an der emotionalen Verbundenheit als wesentlichem Bestandteil professioneller Beziehung festhält. In der professionellen Beziehungsgestaltung ist die emotionale Nähe bewusst reflektiert und zielgebunden.
Dies kann nie vollständig gelingen: Nachspüren des Anderen in
der eigenen Person durch Empathie und die daraus folgende Akzeptanz gelingt
nur ohne Absolutheitsanspruch. Die Suchhaltung nach vorerst richtigen Lösungen
ist damit bedeutsamer, als der Anspruch des absolut Richtigen. Pflegende
leben letztlich nicht in der Lebenswelt von Menschen mit Demenz, sondern
müssen berufliches Regelwissen und gesetzliche sowie betriebliche
Anforderungen in dieser Lebenswelt möglichst individuell, also flexibel
und situationsoffen berücksichtigen, interpretieren, ausgestalten
und dies mit den oft rigiden Vorgaben seitens der Träger bezüglich
Ablauf und Ergebnis vereinbaren. Der respektvolle Umgang mit der Eigenwelt
der Bewohnerin und des Bewohners gelingt nur dann annähernd, wenn
Pflegende den zu pflegenden Menschen auch Realitäten und Notwendigkeiten
sowie die eigenen Grenzen aufzeigen und auch zumuten.
Beschäftigung als Therapie
Beschäftigung bedeutet, etwas in der Welt zu bewegen, das Gegenteil
von Beschäftigung ist Langeweile, Apathie und Bedeutungslosigkeit.
Sich beschäftigen heißt auch, sich zu bestätigen, dem eigenen
Sein eine Bedeutung geben.
Der Beschäftigung von Personen mit Demenz liegen zwei wesentliche Aspekte zu Grunde. Erstens kann an vielfältige Alltagskompetenzen aus dem bisherigen Leben angeknüpft werden und zweitens braucht der Mensch mit Demenz ein akzeptierendes Umfeld, welches seine Beschäftigungen kreativ unterstützt, ohne Lösungen vorzugeben oder durch Sanktionen oder Verhinderung bestimmte Beschäftigungen zu unterbinden.
In der Pflege ist das gelingende soziale Miteinander aus Sicht der
demenziell erkrankten Menschen entscheidend für deren Wohlbefinden.
Insbesondere ist die Akzeptanz der Wirklichkeitspluralität in der
Arbeit mit demenzerkrankten Menschen mit einem mittelschweren bis schweren
Ausprägungsgrad der Erkrankung notwendig. An die Stelle der einen
Wirklichkeitssicht tritt das fortwährende Bemühen, die gelebte
Realität und Erlebensweise des Erkrankten gewährend zu begleiten.
In der Demenz entstehen kognitive Verluste, die das Wohlbefinden und die
Lebensqualität negativ beeinflussen können, wenn das soziale
Umfeld nicht den Bedürfnissen angepasst wird. Eine tragfähige
soziale Gemeinschaft mit einem überschaubaren Personenkreis steigert
das Wohlbefinden von Menschen mit Demenz und verringert herausforderndes
Verhalten.
Demenzerkrankte Menschen sind kaum noch in der Lage, in der zwischenmenschlichen
Begegnung Individualdistanzen zu erkennen und einzuhalten bzw. dem bekannten
oder unbekannten Gegenüber adäquat zu begegnen.
Menschen mit Demenz benötigen deshalb eine soziale Gemeinschaft mit hoher Verlässlichkeit, in der die Distanz zwischen Individuen wenig Bedeutung hat und das Bedürfnis nach Nähe einen hohen Wert erhält. Ebenso sind Menschen mit Demenz kaum noch in der Lage, eine hohe Reizdichte des Umfelds zu verarbeiten. Es besteht die Gefahr, dass auf nicht verarbeitbare Reize mit Stress und Unruhe reagiert wird. Das Umfeld für Menschen mit Demenz muss daher so reizarm gestaltet werden, dass die Aufnahmegeschwindigkeit und die Kapazität der Reizaufnahme der Menschen mit Demenz nicht überfordert wird.
Der Fokus pflegerischer Überlegungen bei herausfordernden Verhaltensweisen geht über das Erfassen beobachtbarer Phänomene hinaus, die damit einhergehende Qualität des Erfahrens und Erlebens der Person mit Demenz ist ein zentraler Bestandteil dieser Überlegungen. Das Ziel pflegerischer Interaktion ist demnach weniger ein Verhaltensmanagement im Sinne von kausal wirksamen Vorgehensweisen wie Konditionierung oder Löschung von Verhalten. Das subjektive Wohlergehen des Menschen mit Demenz mit oder ohne diese Verhaltensformen ist wesentliches Ziel pflegerischer Bemühungen.
Pflege von Menschen mit Demenz besteht daher im Wesentlichen in der gemeinsamen Alltagsbewältigung, die situationsabhängig immer wieder neu Beziehungen herstellt. Dieser Alltag ist in seinen Abläufen nicht formal planbar, denn gerade das situativ angemessene Reagieren auf Verhaltensweisen und Befindlichkeiten macht die pflegerische Leistung aus.
Gelingende Alltagsbewältigung
Alltagssituationen enthalten mannigfaltige Gelegenheiten, die Übergänge
von einer zur nächsten Situation so zu beeinflussen, dass ein Höchstmaß an
physischem, psychischem und sozialem Funktionieren wiederhergestellt wird.
Gerade diese Übergänge in den Alltagssituationen können
Krise und Chance bedeuten.
Die Krise entsteht durch das Unvermögen des Menschen mit Demenz, aus der vergangenen Situation sicher in die nächste zu gelangen, z. B. aus der vergangenen Situation des Sitzens im Aufenthaltsraum sicher in den Flur zu gelangen. Sicherheit entsteht hier durch physisch-psychisch-soziales Funktionieren. Eine Krise kann z. B. durch das Unvermögen des selbständigen Gehens (physisch), durch Fehldeutung der Situation (psychisch) oder durch das Beteiligtsein anderer Personen (sozial) entstehen.
Die Chance in dieser Übergangssituation besteht in der Qualität, wie zwischen der Realität der Bewohnerin oder des Bewohners und ihrer bzw. seiner Umgebung Brücken gebaut werden. Die Brücken können durch Anerkennung bestehen, aber auch im Setzen von Grenzen durch Verhandeln, evtl. durch Entscheiden, durch Zusammenarbeit oder auch durch stellvertretendes Handeln. Situationen im Alltag werden damit bewusst und gezielt im Rahmen von Problemlösungs- und Beziehungsprozessen gestaltet.
Das Ziel der gelingenden gemeinsamen Alltagsbewältigung erfordert professionelles Wissen, strukturierte Reflektion und hohe fachliche Handlungskompetenz von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Pflege und Betreuung. Wissen und Fähigkeiten beziehen sich dabei nicht vorrangig auf die Beherrschung von Handlungsabläufen, sondern auf die Verstehens- und Interaktionskompetenz von Personen mit ihren jeweiligen Verhaltensweisen.
Um dieses Ziel erreichen zu können, ist die gesamte Organisation gefordert. Sie muss sich multiprofessionell auf die konkreten Belange der zu pflegenden Menschen ausrichten. Daher muss das Management der Pflegeeinrichtung selbst über ein ständig aktualisiertes theoretisches Wissen zu Fachthemen verfügen, um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fachlich führen zu können. Ebenso sind umfassende Kompetenzen in der spezifischen Betriebs- und Personalführung notwendig, um Mitarbeitende zu befähigen, die geforderte Pflege und Betreuung für Menschen mit Demenz leisten zu können.